Sechs Wochen nach der Bombardierung der Stadt Minsk wurde 1941 der Befehl zur Errichtung des Ghettos erteilt. »Das Gebiet des Ghettos umfasste ein paar Straßen und Nebengassen in der Altstadt, die mit Stacheldraht umzäunt wurden. Dort standen hauptsächlich alte Holzhäuser. Die Fläche des Ghettos war nicht groß: etwa 900 mal 800 Meter, trotzdem wurden dort fast hunderttausend Juden hineingepresst. Die Enge war unerträglich, in jedem Zimmer hausten 15—20 Menschen«, so erzählt der Arzt Felix Lipski. Das Buch lässt zwölf jüdische Frauen und Männer als Zeitzeugen in Interviews zu Wort kommen. Die Überlebenden erzählen, wie sie als Kinder oder Jugendliche die Zeit im Ghetto oder in Verstecken auf dem Land überlebten. Sie schildern ihren Werdegang nach der Befreiung, ihre schulische, berufliche und familiäre Situation in der Nachkriegszeit, berichten über ihre psychische Situation und ihr Engagement in sozialen Organisationen. Bis zum Krieg bestand eine gute Nachbarschaft zwischen der russischen und der jüdischen Bevölkerung. Mit dem Umzug ins Ghetto 1941 ändert sich die Situation schlagartig. Durch die Isolation von der Mehrheitsbevölkerung kommt es zu einem feindlichen Verhalten gegenüber den jüdischen Ghettobewohnern und Verleugnung der ursprünglich guten Beziehungen. Neben den »Erinnerungen« bietet das Buch weitere Beiträge zum Ausmaß der Vernichtungspolitik durch die Nazis, zum jüdischen Widerstand in eigenen Partisanengruppen, aber auch zu den deutschen Wirtschaftsinteressen im Osten zwischen Eroberungspolitik und Völkermord. Ein Beitrag beschäftigt sich mit der justiziellen Aufarbeitung der NS- Verbrechen. Es wird ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung gegeben, die das gesellschaftliche und politische Leben der Juden prägte. Die jüdische Bevölkerung hatte in Weißrussland eine lange Tradition. Sie war seit den 20er Jahren in der Belorussischen Sowjetrepublik ebenso wie Weißrussen und Polen am Staats- und Parteiaufbau beteiligt. Juden waren sowohl im Staatsapparat als auch in öffentlichen Einrichtungen aktiv. Die europäischen Antisemiten konstruierten eine »jüdisch- bolschewistische« Verschwörung — Klischees, die heute noch bedient werden. Vor dem Krieg lebten in Minsk rd. 71000 Juden, das war ein Bevölkerungsanteil von etwa 30%. Allein hier werden über 60000 Jüdinnen und Juden ermordet. Von 1944 bis 1953 haben sich die Juden, die Krieg und Verfolgung überlebt hatten, aktiv am Wiederaufbau beteiligt. Sie spielen bis 1949 eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft und im Bildungswesen, in Wissenschaft und Forschung sowie in der Kunst. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keinen ausgeprägten staatlichen Antisemitismus, und doch werden ihre in den Jahren 1937/38 geschlossenen und zerstörten jiddischen Schulen nicht wieder aufgebaut und die wenigen Synagogen nicht wieder geöffnet. 1949 wird die antijüdische Agitation durch Beschlüsse des 19.KPdSU-Parteitags angeheizt, in deren Folge jüdische Einrichtungen, Zeitschriften, Verlage und Künstlerverbände aufgelöst werden. Jüdische Künstler werden verhaftet und verurteilt. Ihnen allen wird mangelnder Nationalismus und die Verbreitung bourgeoiser Ideen vorgeworfen. In dieser Zeit werden auch Mitglieder des Jüdischen Antifakomitees verhaftet und Schweigen breitet sich über die Judenverfolgung und den Beitrag der Juden am Sieg über Deutschland aus. Mit dem Fall der Sowjetunion und der Gründung selbstständiger Staaten wird dieser Teil der Geschichte neu aufgerollt. Jüdische Überlebende können nun offen über ihre Situation nach 1944 sprechen. Es ist das Verdienst der vorwiegend jüngeren Historiker, dieses dunkle Kapitel intensiv recherchiert und aufgearbeitet zu haben. Damit wird mündlich überlieferte Geschichte zu einem wichtigen Hilfsmittel, um den Zugang zu Vergangenem zu erschließen und die historische Forschung zu unterstützen.
Larissa Peiffer-Rüssmann aus SoZ
Anfang Juli wurde Minsk, die Hauptstadt der belorussischen Sowjetrepublik, von der deutschen Besatzung befreit. Ein Datum, das in der bundesdeutschen Debatte ebenso wenig zur Kenntnis genommen wird wie ein Buch, das sich dem Überlebenskampf weißrussischer Jüdinnen und Juden widmet. ... Das vorliegende Buch gibt Überlebenden und Opfern der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik eine Stimme. ... In der zweiten Hälfte des Buches wird die Verfolgung durch das deutsche Besatzugsregime, das jüdische Leben vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die juristische Aufarbeitung der Verbrechen in der BRD thematisiert. ... Trotz ... Kritik ist das vorliegende Werk ein wichtiges Buch von WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Kontexten, und die dadurch eingebrachte Vielfalt von Quellen und Perspektiven ist eine Bereicherung für die Forschung zum nationalsozialistischen Genozid in der Sowjetunion. Vor allem aber bietet der Band eine Vielzahl von Informationen und Erfahrungen aus der Sicht von Überlebenden, die bisher in Deutschland noch viel zu wenig gehört worden sind. xxxwww.stiftung-sozialgeschichte.de/ff_aktuell.htmxxxDie vollständige Rezension kann nachgelesen werden in der Printfassung der Sozial.Geschichte ...xxx
Anika Walke aus Sozial.Geschichte
Das Mädchen auf dem Foto ist zwölf Jahre alt. Es hält beide Arme ausgestreckt, auf seinen Händen sitzt eine junge Katze. Das Mädchen blickt sehnsüchtig und ängstlich zugleich auf das Tier. So, als könne es seinem Glück nicht trauen. Als fürchte es, das Kätzchen gleich wieder zu verlieren. Das Foto wurde drei Jahre nach der Befreiung Weißrusslands durch die Rote Armee aufgenommen. Drei Jahre, nachdem das Mädchen fast alles verloren hatte, auch seine Kindheit und seine Gesundheit. Denn dieses Mädchen war Jüdin und lebte unter der deutschen Besatzung im Ghetto Minsk. ... Wenn es eine Hierarchie der Schrecken gibt, dann stehen die Verbrechen, die Deutsche in Weißrussland begingen, mit an oberster Stelle. Wehrmacht, Polizei, Gendarmerie und SS wetteiferten darin, die jüdische Bevölkerung zu peinigen und schließlich auszurotten. Wie üblich wurden nur wenige der Täter nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen. Und niemand in Nachkriegsdeutschland wollte wissen, was es da zu verantworten gab. Erst in den letzten Jahren begannen sich ein paar wenige Historiker und vor allem junge Menschen für die deutschen Verbrechen in Weißrussland zu interessieren und dafür, wie die jüdische Bevölkerung auf die deutsche Mordpolitik reagierte. In dem Band der Kölner Projektgruppe Belarus kommen nun – erstmals im deutschsprachigen Raum – Überlebende des Minsker Ghettos selbst zu Wort. Die Herausgeber interviewten zwölf Frauen und Männer ausführlich zu ihrem Leben und Überleben unter der deutschen Besatzung. Die Berichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden flankiert von Artikeln kompetenter Historiker und Fachjournalisten, die über die geschichtlichen Hintergründe informieren. Das große Verdienst dieses Buches liegt vor allem in den Interviews mit den Überlebenden, die deutlich machen, dass sich Geschichte aus den Geschichten einzelner Menschen zusammensetzt. Und die veranschaulichen, was Worte und Begriffe, die verwendet werden, um eine Situation zu beschreiben, ganz konkret bedeuten können. Worte wie Hunger zum Beispiel, oder Versteck, oder Spätfolgen. Im Ghetto wurde gehungert. Das weiß inzwischen jeder. Aber was hieß hungern? Es hieß, Brennnesseln oder Kartoffelschalen mit einem Löffel Mehl verkochen und diesen Brei dann essen. Weil es nicht anderes zu essen gab. Hungern hieß, nicht mehr laufen zu können, weil die Beine vor Hungerödemen so aufgedunsen waren, dass sie den Dienst versagten. Das Wort Versteck bedeutete im Minsker Ghetto zum Beispiel, dass in einem der überfüllten Häuser unter dem Schrank ein Hohlraum geschaffen wurde. Wenn die Deutschen eine Aktion im Ghetto durchführten, krochen mehrere Menschen in diesen Spalt, zogen den Schrankboden darüber und rührten sich manchmal tagelang nicht von der Stelle. Der Raum war so eng, dass manche darin verrückt wurden, andere erstickten und wieder andere an Herzversagen starben. Oder nehmen wir den Begriff Spätfolgen. Oder auch Trauma. Das Wort Trauma geht heute vielen rasch und leicht über die Lippen. Es ist fast zum Modeausdruck geworden. Die Frau, die auf dem Foto als Mädchen mit der kleinen Katze zu sehen ist, erzählte der Projektgruppe Belarus von ihrem Leben nach der Befreiung: Sie war mit 14 noch Bettnässerin. Sie bekam Eiterbeulen unter den Augen und Geschwüre im Zwölffingerdarm. Sie war immer wieder krank. Trotzdem engagiert sie sich als Rentnerin im Verband der Überlebenden des Holocaust. Dieses Buch ist jedoch nicht nur ein Kompendium des Schreckens. Es ist einfach nur realistisch. Und dazu gehören auch die Geschichten über den Widerstand im Ghetto und über die Partisanenlager, in denen jüdische Zivilisten und vor allem viele Kinder überlebten. Berichte über jüdische Ärztinnen, die sich dieser Kinder annahmen, und über Partisaninnen, die eine Schule für sie einrichteten, mitten in den Sümpfen, umgeben von deutschen Stellungen. Berichte über Mütter, die ihre Kinder retteten, bevor sie sich selbst in Sicherheit brachten. Über halbwüchsige Jungen, die immer wieder aus den Wäldern ins Ghetto kamen, um für ihre jüngeren Geschwister zu sorgen. Dieses Buch zeigt die Gesichter der realen Menschen hinter den Zahlen und Fakten Es geht behutsam mit diesen Menschen um. Und es stellt die richtigen Fragen.
Ingrid Strobl Belarus aus WDR 3